Geschürte Ängste: Sicherheit gegen Freiheit
Verfasst: Mi 20. Jul 2011, 01:30
der Freitag hat geschrieben:Jörg Ziercke, Chef des BKA, äußert sich über die angeblich wachsende Anzahl linksextremistischer Straftaten. Für ihn ist der Linksextremismus ähnlich bedrohlich wie der Rechtsextremismus.
Ziercke fordert einen größeren Fahndungsdrucks, die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung und den Einsatz verdeckter Ermittler.
Auch die Bürger ruft er zu mehr Wachsamkeit und Anzeigen auf.
Die offiziellen Zahlen aus der Kriminalstatistik und dem Verfassungsschutzbericht sagen etwas anderes. Dennoch wirft der BKA-Chef den Gegenern der Vorratsdatenspeicherung einen unredlichen Umgang mit Argumenten und Statistiken vor.
Die offiziellen Zahlen widersprechen der Auffassung des BKA
Jörg Ziercke spricht in dem Interview von einem wachsenden Bedrohungspotenzial durch Straftaten aus dem linken Spektrum. Die offiziellen Zahlen vom Verfassungsschutz bestätigen dies allerdings nicht. Der Verfassungsschutzbericht 2010 zeigt allgemein einen deutlichen Rückgang politisch motivierter Straftaten.
Der Bericht führt für das Jahr 2010 insgesamt 19.652 politische Taten auf. Im Jahr 2009 zählte der Verfassungsschutz noch 23.484 Taten, so dass sich ein genereller Rückgang um 16,32 Prozent feststellen lässt. Von einem allgemeinen Anstieg politisch motivierter Straftaten kann also nicht die Rede sein. Insgesamt sind in der polizeilichen Kriminalstatistik 5.933.278 Straftaten für das Jahr 2010 erfasst. Der Anteil politischer Taten liegt insofern ohnehin nur bei 0,33 Prozent.
Von den insgesamt 19.652 Taten wurden 15.905, also 80,93 Prozent, dem rechten Spektrum zugeordnet. Auf das linke Spektrum entfallen dagegen lediglich 3.747 Fälle, was 19,07 Prozent entspricht. Obwohl der Anteil der politisch motivierten Straftaten aus dem linken Spektrum weniger als ein Fünftel der erfassten rechtsextremistischen Taten beträgt, sagt der BKA-Chef gegenüber dem Hamburger Abendblatt: „Ich halte den Linksextremismus für ähnlich bedrohlich wie den Rechtsextremismus.“
Die öffentliche Wahrnehmung politisch motivierter Straftaten
Ziercke betont zwar, dass er in Deutschland keine linksterroristischen Bestrebungen erkennen kann und bescheinigt der linken Szene, dass hier Anschläge, die das Ziel verfolgen, Personen zu töten, nicht vermittelbar sind. Dennoch baut er ein nicht faktengestütztes Bedrohungspotenzial durch politisch motivierte Straftaten aus dem linken Spektrum auf und fordert zu dessen Bekämpfung weitreichende Befugnisse der Ermittlungsbehörden.
Der BKA-Chef begründet seine Forderung mit dem Anstieg von Brandstiftungen an Autos in Hamburg und Berlin. Diese Art von Anschlägen wird fast traditionell der linken Szene angelastet. Dabei geht selbst die Berliner Polizei davon aus, dass lediglich ein Drittel der Autobrandstiftungen überhaupt politisch motiviert ist. Bei den übrigen Fällen handelt es sich um schlechte Scherze, Vandalismus, persönliche Racheakte oder Versicherungsbetrug.
Das kritische BILDblog von Lukas Heinser beobachtet regelmäßig die öffentlichen Medien und macht auf Unstimmigkeiten, falsche Fakten und Manipulationen aufmerksam. Auf der nebenstehenden Abbildung zeigt das Blog, wie das ZDF die Verhältnismäßigkeit zwischen Straftaten aus dem linken und dem rechten Spektrum dokumentiert: Die Balken in dem Diagramm stellen dar, wie sich die politisch motivierte Kriminalität zwischen 2009 und 2010 entwickelt hat.
Grafik siehe Originalbeitrag
Obwohl die Straftaten aus dem linken Spektrum im Verhältnis zu den rechten Delikten weniger als ein Fünftel betragen, werden beide Diagrammbalken gleich hoch angezeigt. Das BILDblog hat die Grafik entsprechend korrigiert. Die Abbildung auf der rechten Seite zeigt, wie die Diagrammbalken gezeichnet sein müssten, um das tatsächliche Verhältnis zwischen linken und rechten Straftaten anzuzeigen. Hier wird deutlich, wie die Sorge in der Bevölkerung bewusst geschürt wird, um eine höhere Akzeptanz für die Vorratsdatenspeicherung, für das Einschleusen von verdeckten Ermittlern und für andere umstrittene Ermittlungsmethoden zu erzeugen.
Geschürte Ängste: Sicherheit gegen Freiheit
Jörg Ziercke fordert in dem Interview mit dem Hamburger Abendblatt eine Rückkehr zur Vorratsdatenspeicherung und begründet seine Haltung unter anderem mit der wachsenden Bedrohung durch politisch motivierte Straftaten aus dem linken Spektrum. Das Gesetz zur anlasslosen Speicherung der Kommunikationsdaten unverdächtiger Bürger war am 02. März 2010 durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt und außer Kraft gesetzt worden.
Sowohl das Max-Planck-Institut (2007) als auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestags (2011) kommen in jeweiligen Gutachten zu dem Schluss, dass die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland weder eine abschreckende Wirkung auf potenzielle Täter entfaltet noch den Ermittlungsbehörden bei ihrer Arbeit hilft oder einen signifikanten Einfluss auf die Aufklärungsquote von Straftaten hat.
Obwohl das Verfassungsgericht in seinem Urteil eindeutig sagt, dass Kommunikationsdaten ausschließlich in exakt definierten Fällen schwerster Kriminalität genutzt werden dürfen und dass entsprechende Daten selbst dann nur dezentral gespeichert und in besonderem Umfang geschützt werden müssen, sieht BKA-Chef Ziercke keinen Widerspruch zwischen seiner Forderung und dem Urteil der höchsten Verfassungsrichter: „Das Bundesverfassungsgericht hat ja beschrieben, wie man die Vorratsdatenspeicherung verfassungsgemäß und damit verhältnismäßig umsetzen kann. Die grundsätzliche Frage ist beantwortet.“
Wie auch bereits Innenminister Hans-Peter Friedrich greift Jörg Ziercke hier zu einer bewährten Methode: In der Bevölkerung werden irrationale Ängste vor bedrohlich wachsenden politisch und terroristisch motivierten Gefahren geschürt, die sich durch die offiziellen Statistiken und durch die Erkenntnisse unabhängiger Wissenschaftler und Experten nicht bestätigen lassen. Unter den Bürgern soll das Gefühl der diffusen Bedrohung zu einer erhöhten Bereitschaft führen, einer deutlichen Einschränkung von Freiheits- und Grundrechten zugunsten einer vermeintlich höheren Sicherheit zuzustimmen.
Jörg Ziercke wirft den Gegnern der Vorratsdatenspeicherung in dem Interview mit dem Hamburger Abendblatt einen unredlichen Umgang mit Argumenten und statistischen Daten vor. Ob es allerdings redlicher ist, trotz gegenläufiger Statistiken, sinkender politischer Straftaten, eines deutlichen Urteils des Bundesverfassungsgerichts und verschiedener Studien zur Nutzlosigkeit der Vorratsdatenspeicherung von einer wachsenden Bedrohung zu sprechen und eine Erweiterung der Befugnisse von Ermittlungsbehörden als Lösung darzustellen, ist fraglich.
Quelle